Twittertagebuch, Eintrag 1

Liebes Tagebuch,

das glaubst du mir nie! Ich würde es ja selbst nicht glauben, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen: in meinem Lieblingssocialmedianetzwerk (der Einfachheit halber nenne ich es ab nun twitter) spinnen sie. Nicht alle, aber so viele. Da herrscht helle Aufregung. Die einen tun so, als würde es sie nicht tangieren, fragen aber dann doch nach, worum es eigentlich geht und die anderen diskutieren heftig mit, über die Sache. So ist halt jeder damit beschäftigt oder besser gesagt: wird beschäftigt. Mit der Tatsache, dass sich erwachsene (ja, liebes Tagebuch, ich bin mir ziemlich sicher) Menschen versuchen, sich gegenseitig die Augen auszukratzen. Weil… ja warum eigentlich? Vorgegeben werden Unterstellungen. Dass manche User nicht ihren richtigen Namen verwenden würden oder eine natürliche Person mehrere Accounts betreiben würden. Das scheint manchen ein unerträglicher Zustand zu sein. Weil angreifbar müsse man schon sein.

Ja, ganz, ganz sicher, liebes Tagebuch, das sind erwachsene Menschen. Ich hab ja deren Bilder gesehen und die haben auch Namen, also sind die echt. Auf jeden Fall stellt sich dann heraus, dass die Echtheit der Benutzer doch nicht soooo problematisch sei. Vielmehr ginge es einfach um’s Hinhauen auf eine Gruppe, weil die Mitglieder der Gruppe auch hergehaut haben, auf einen selber oder auf Freunde. Oder auf sonstwen. Na und weil die auch nicht aufgehört haben damit.

Die haben auch auf einen hingehaut, der seinem Freund gratuliert hat, oder seinem Chef halt. Das scheint einen Unterschied zu machen. Auf jeden Fall hat es nicht gepasst WIE er gratuliert hat. Nein, liebes Tagebuch, ich hab’s auch nicht richtig verstanden. Vielleicht versteh ich ja so vieles in diesem Twitter falsch. Das geht aber nicht nur mir so. Auch andere verstehen dieses Twitter als öffentliche Gladiatorenarena, in denen nicht mit Dreizack und Netz sondern mit 140 Zeichen und RTs gekämpft wird. Da schleudert man Mentions in des Gegners Auge und freut sich diebisch darüber, dass sie ihm jetzt tränen. Oder sich nur ärgert, das ist auch schon was wert. Weil als Sieger muss man schon vom Feld gehen, es schauen ja alle zu.

Und genau das, liebes Tagebuch, ist ein Grundübel: es schauen alle zu und es braucht einen Sieger, glauben die. Man könnte auch aufeinander zugehen und sich die Hände reichen, auch das geht mit 140 Zeichen. Oder sich sagen, dass das man nicht miteinander spielen will und sich konsequent ignoriert. Das geht auch. Aber wie zeigt man allen Zuschauern, dass man den anderen ignoriert? Dass man wortlos über dem anderen steht? Hm, ich weiß es auch nicht liebes Tagebuch. Ich weiß aber auch nicht, warum das wichtig sein soll.

Dein wuchale

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